Der Bologna-Prozess beschreibt die Bestrebungen der Bildungsbeauftragten von gegenwärtig 46 Staaten und Organisationen in Europa, bis 2010 einen gemeinsamen Europäischen Hochschulraum zu schaffen. 1999 unterzeichneten 29 von ihnen die nach ihrem Sitzungsort benannte Bologna-Erklärung, welche den Grundstein für eine hochschulpolitische Reformwelle legte, die der Idee nach keine Ländergrenzen mehr kennt.
Kernelemente dieses Prozesses sind die Förderung von Verständlichkeit und Vergleichbarkeit der Hochschulabschlüsse, die Zusammenarbeit im Bereich der Qualitätssicherung und die Verbesserung der Mobilität von Hochschulangehörigen. Aber auch die Schaffung einer europäischen Dimension der Hochschulausbildung verbindet die sogenannten Bologna-Mitglieder. Grundlage dieses neuen Europäischen Hochschulraumes bilden die Einführung eines länderübergreifenden, zweistufigen Systems von Studienabschlüssen (Bachelor und Master) und die Verwendung eines einheitlichen Leistungspunktesystems (nach dem ECTS-Modell).
Die Idee eines einheitlichen, vergleichbaren und innereuropäische Mobilität fördernden Bildungsraumes ist gerade in Anbetracht einer sich zunehmend differenzierenden Welt außergewöhnlich. Sie erkennt an, dass Wissen keine Ländergrenzen kennt, und legt zu Grunde, dass Menschen unabhängig von ihrer nationalen Herkunft einen Anspruch auf eine adäquate und international anerkannte (Hochschul-)Bildung haben. Wie wichtig die tatsächliche Schaffung eines Bildungsgleichgewichts in Europa ist, wird deutlich, wenn man sich die gravierenden Bildungsunterschiede vor Augen führt, die durch die PISA-Studien ganz Europa in Atem hielten. Auch wenn die Idee der Chancengleichheit erst vor wenigen Jahrzehnten in unserem kulturellen Raum zu einem Bestandteil von Gerechtigkeit wurde, ist es heute inakzeptabel, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, nicht nur im sozialen, sondern auch im europäischen Sinne, schlechtere und bessere Zugänge zu Bildungsmöglichkeiten und Wissen haben. Aber auch für Fortschritt und Innovation ist eine bestmögliche (Aus-)Bildung unabdingbar. Wissen und Wissensvermittlung bilden die Grundlage für Forschung, diese wiederum speist die innovationshungrige Wirtschaft und beinhaltet die Möglichkeiten, kommenden Energieengpässen ökologisch entgegenzutreten.
Gemeinsame Werte und Wissensbestände schaffen zudem eine gemeinsame, kulturell erweiterte Orientierungsgrundlage. Sie bilden als heterogener Gesellschaftskanon die Basis, auf die jedes Individuum durch Abgrenzungen und Zugehörigkeiten seine Identität gründet. Erweitert man diese Perspektive, wird deutlich, dass ein länderübergreifendes Bildungsgleichgewicht eine völlig neuartige Projektionsfläche für individuelle Identitäten darstellt – eine europäische nämlich. Verbunden durch ähnliche Bildungswege und -inhalte öffnen sich neue Wege für eine europäische Identität, die nicht mehr allein auf der mittelbaren Zugehörigkeit zu einer zunächst wirtschaftlich motivierten Staatenunion fußt, sondern gesellschaftlich-kulturell und durch gemeinsame Bildung bewusst verankert wird.
Erst kürzlich konnte ich diese hochschulpolitische Reformwelle in ihrer vollen Wucht am eigenen Leibe spüren. Was innereuropäisch nun keine Ländergrenzen mehr kennen darf, verzweifelt an wenigen nationalen Kilometern! Beim Versuch, im europäischen, zweistufigen Abschlusssystem und mit einem druckfrischen Bologna-Abschluss in der Tasche die Universität zu wechseln, stolperte ich nicht über Landesgrenzen, nein, nicht einmal über eine innerdeutsche Landesgrenze, sondern allein über die 110 Kilometer, die die beiden Universitätsstädte trennen! Was europäisch nun verständlich und vergleichbar ist, wird zum beinahe unlösbaren Kommunikationsproblem von einer Stadt zur nächsten! Was die Mobilität in ganz Europa ermöglicht, macht es beinahe unmöglich die Stadt zu verlassen! Denn nur eine Stadt weiter konnte man meinen europäisierten Hochschulabschluss zunächst nicht anerkennen! „Das sei ja völlig unverständlich, was die Kollegen da ausgestellt haben. Gar nicht vergleichbar...“.
Der Bologna-Prozess stellt theoretisch eine Europa festigende und für mehr Gerechtigkeit stehende Umwälzung dar. Bitter nur, dass diejenigen, deren erworbenes oder zu erwerbendes Wissen und deren Kompetenzen international verstanden, verglichen und mobil gemacht werden sollen, nun dieses Süppchen á la Bolognese national unverstanden, nicht vergleichbar und nahezu gefesselt an die Alma Mater vielerorts auslöffeln müssen!
Katharina, Deutschland